Über das Archiv
„Die Fotografien, die Pierre Bourdieu im Rahmen seiner ethnologischen und soziologischen Forschungsarbeiten während des Befreiungskrieges in Algerien gemacht hat, ermöglichen es uns, einen neuen Zugang zu seinem Blick auf die gesellschaftliche Welt zu gewinnen. Diese Fotos, die vierzig Jahre lang in verstaubten Kartons vergraben blieben, zeugen von einer Initiationsreise und einer tief gehenden biographischen Konversion, die den Ausgangspunkt einer außergewöhnlichen wissenschaftlichen und intellektuellen Flugbahn bildeten“ [Franz Schultheis, 2019]
Pierre Bourdieu hat sein gesamtes Archiv an Fotografien, die während seiner Feldforschungsarbeiten in Algerien zwischen 1958 und 1961 und 1961 bis 1962 in Lasseube, Béarn (Frankreich) entstanden sind, der Stiftung Bourdieu und Camera Austria anvertraut, mit dem Ziel sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bourdieu stand einer Veröffentlichung seiner Fotografien zu Lebzeiten sehr kritisch gegenüber, da er diese nicht als ästhetisch-künstlerische Fotografie missverstanden wissen wollte. Gemeinsam mit ihm wurde deshalb entschieden, dass diese fotografische Arbeit anlässlich von Publikationen oder Ausstellungen immer nur als untrennbarer Teilaspekt seiner ethnografischen Feldforschungen und in ihrem Dialog mit den jeweils zeitgleich entstanden schriftlichen Zeugnissen verstanden und präsentiert werden sollten. Seit seinem Tod wurden diese Bilder in zahlreichen Ausstellungen und Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
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Pierre Bourdieu nutzte die Fotografie während seiner frühen Feldforschungen systematisch als Methode, Instrument und Erkenntnisform. Dadurch erweitert er das Forschungs- und Methodenrepertoire der Sozialwissenschaften um originär empirisch-fotografische Bildpraktiken. Bisher war nur ein Bruchteil des Bourdieu´schen Fotoarchivs und der umfangreichen mit ihm korrespondierenden Dokumente in Paris zugänglich. Jetzt erst konnten im Rahmen des DFG-Projekts „Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnisform soziologischer Forschung bei Pierre Bourdieu“ die visuellen Komponenten gesichtet, strukturiert und mit den ethnographischen und soziologischen Studien Bourdieus in Beziehung gesetzt werden. Die erstmalige digitale Archivierung der Fotografien ermöglicht nun allen Anhängern Bourdieus, Forschern, Historikern, die sich für die Kolonialzeit, sowie Revolution in Algerien interessieren, aber selbstverständlich auch Fotografen und Foto-Ästheten freien Zugang zu den Fotografien.​ ​
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Zu den Hauptaktivitäten der Fondation Pierre Bourdieu zählte bis jetzt die Verwaltung von Bourdieus photographischem Archiv mit Bildern von seiner Forschung in Algerien. Bourdieu übergab diese Bilder der Fondation Pierre Bourdieu und Camera Austria. So weit wie möglich am Sinn Bourdieus orientiert, der das Projekt bis zum Herbst 2001 begleiten konnte, wurde unter Kuratorenschaft von Franz Schultheis und Christine Frisinghelli die Wanderausstellung Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung konzipiert. Sie war erstmals 2003 im Institut du monde arabe in Paris zu sehen und wandert seither, stets begleitet von Symposien und Konferenzen, die das Erbe und die Relevanz der Theorie und der Methoden (insbesondere der Photographie) Bourdieus diskutieren.
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Bisher war das Archiv in den USA, in Algerien und in vielen Ländern Europas zu sehen. Die ausstellungsbegleitende bebilderte Publikation liegt in deutscher und französischer Sprache vor. In der umfangreichen Rezeption der Ausstellung in Fachzeitschriften und der Tagespresse ist zunehmend klar geworden, dass die Arbeiten Bourdieus nicht primär in ihrer ästhetischen Dimension, sondern als visuelle Anthropologie bzw. ethnographisches Primärmaterial zu betrachten sind und einen Zugang zu Bourdieus Gesamtwerk ermöglichen.
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2024 wurde das Archiv zurück in “seine Heimat” nach Paris gebracht. Das Centre Pompidou kaufte einen Großteil der Sammlung auf, die sich nun in der Kadinsky Bibliothek am Standort in Paris befinden. Die Bildrechte bleiben weiterhin bei der Fondation Pierre Bourdieu. Durch die Verwaltung der Bildrechte am photographischen Archiv Bourdieus und die Veröffentlichung dieser Zeugnisse will die Stiftung auch in Zukunft dazu beitragen, das intellektuelle Vermächtnis Bourdieus weiterzuverbreiten
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​Mehr Informationen zu Chronologie der historischen Ereignisse in Algerien finden Sie hier.
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Zur Struktur und Ordnung des digitalen Fotoarchivs Pierre Bourdieu
Seine fotografischen Dokumente markierte und ordnete Bourdieu nach Ort und Zeit und bewahrte sie sorgfältig in Pergamenttütchen auf. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich verschwanden seine Bilder in Pappkartons, wo er sie zwar ab und zu herausholte, sie der Öffentlichkeit jedoch nur selten auf Titelbildern oder in Publikationen ohne namentlichen Bildnachweis zeigte.
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Leider sind in den Jahrzehnten bis zur Übernahme des Archivs durch Fondation Bourdieu und Camera Austria viele Bilder abhandengekommen. Von den ursprünglich ca. 3.000 Fotos waren bei der Übernahme 2001 nur ca. 700 Objekte noch auffindbar. Ende 2017 wurde ein zweites Konvolut an Negativen und Abzügen im Archiv Pierre Bourdieu an der Université de Condorcet aufgefunden und konnte in das digitale Archiv aufgenommen werden.
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Der derzeitige Stand (2021) des Archivs umfasst 1.153 Objekte.
- 994 Negative im Format 6 cm × 6 cm
- 109 Negative im Format 35 mm
- 216 Kontakt- bzw. Arbeitsabzüge im Format zwischen 6 cm × 6 cm bis maximal 12,5 cm × 12,5 cm Größe
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​Neben den Negativen bilden 230 großformatige Vintage-Abzüge im Format 23 cm × 23 cm, eine kleinere Gruppe davon im Format 30 cm × 30 cm, die von Pierre Bourdieu in drei Alben thematisch zusammengestellt wurden, den wichtigsten Korpus des Archivs. Von 93 dieser 230 Abzüge existieren keine Negative, d.h. diese Originalfotografien sind die einzigen Quellen, die noch zur Verfügung stehen. Derzeit gibt es also 1003 Scans von Negativen sowie 150 Reproduktionen von Abzügen ohne Negativ.
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Fast alle Fotos sind von Bourdieu selbst geschossen. Bei einigen ist ungewiss, ob es Fotografien aus dritter Hand sind und bei jenen, auf denen Bourdieu selbst zu sehen ist, erübrigt sich diese Frage. Die Titel der Fotografien stammen zum Großteil von Pierre Bourdieu. Die Datierung und Ortsangaben ebenfalls und wurden dort, wo sie eindeutig aus vorhandenem Bildmaterial oder aus Publikationen ableitbar waren, ergänzt. Für eine korrekte Einordnung der Materialen wurden außerdem Gespräche mit ortskundigen, ethnografischen Informanten, Tassadit Yacine und Salah Bouhedja, geführt und die einschlägigen Dokumente im Pariser Bourdieu-Archiv (Campus Condorcet) konsultiert.​
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Archiv-Nummerierung​
Die ursprüngliche Nummerierung der Negative wurde als Archivnummer der Bilder beibehalten. Ein System von Buchstaben gibt darüber Aufschluss, ob sich im Archiv ein Originalabzug mit einem existierenden Negativ (N_P), nur ein Negativ (N), oder ein Originalabzug ohne existierendes Negativ (R) befindet. 2019 wurden von allen Negativen und Originalfotografien hochwertige Scans und digitale Arbeitsabzüge hergestellt, um die Originale nicht mehr dem Risiko weiterer Schädigungen auszusetzen. Die genaue Bedeutung der Archiv-Nummern wird im folgenden Abschnitt erklärt:
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Jedes Objekt im digitalen Archiv (d.h. jeder Datensatz im digitalen Archiv) ist durch den Dateinamen bezeichnet. Derzeit befinden sich 1.153 Objekte im Archiv: 1003 Scans vom Negativ, 150 Reproduktionen von Vintage-Abzügen ohne Negativ)
Dateiname: Der Datei-Name baut auf der Nummerierung der Negative auf, die PB angelegt hat, und die auf den Originalnegativen angegeben sind. Diese Nummern werden ergänzt von Buchstaben die darüber informieren, welches Originalmaterial im physischen Archiv vorhanden ist:
N = Original-Negativ im Format 6 x 6 cm, kein Abzug vorhanden. Vgl. N_001_1 oder N_131_8
Die größte Gruppe unter den Objekten ist mit N = Negativ bezeichnet, und umfasst ausschließlich Negative im Format 6 cm x 6 cm (Rollfilm, Mittelformat-Kamera), mit der PB vorrangig gearbeitet hat. Ein Rollfilm ermöglicht 12 Aufnahmen.
Die von Bourdieu eingeführte erste Ordnungszahl bezeichnen den Film oder eine andere Einheit (von 1 bis 131), worauf die entsprechend nummerierten Kontaktabzüge hinweisen könnten. Diese Nummerierung wird z.T. von fortlaufenden 3-stelligen, in Einzelfällen 4-stelligen Zahlen ergänzt, z.T. werden sie innerhalb der bezeichneten Gruppe fortlaufend nummeriert.
P (= Print) = Original-Negativ + ein Vintage-Abzug, z.B.: N_006_5_P
P wird der Negativ-Nummer nachgestellt. Zur Information: P ersetzt die zwischen 2001 und 2018 verwendete Bezeichnung O (der Negativ-Nummer vorangestellt). Auf dieser Basis ist z.B. das Abbildungsverzeichnis im Buch „In Algerien“ erstellt. Erst im Zuge der Digitalisierung des gesamten Archivs 2019 wurde das vorhandene Negativ (N) als kleinster gemeinsamer Nenner definiert und P (Nachweis einer vorhandenen Originalfotografie) als Zusatzinformation nachgestellt.
R (= Reproduktion) = Vintage-Fotografie ohne vorhandenes Negativ. R_001 bis R_107.
93 Originalfotografien in dieser Gruppe.
Zur Information: Das 2. Konvolut (Übernahme 2017) enthielt einige Negative zu den Fotografien der ursprünglichen Gruppe R, die daher in die Gruppe N wechselten: ergo gibt es einige Leerstellen in der derzeitigen Gruppe R.
L (= Lasseube): Reproduktionen von Kontaktabzügen 6 cm x 6 cm, reproduziert mit dem Büttenrand des Originals, vgl. L_001 bis L_020; einige Negative dieser Aufnahmen sind vorhanden, diese sind in der Gruppe N mit nachgestellter Zusatzinformation L gekennzeichnet, vgl. N_007_1_L bis N007_5_L.
A (= Album): Insgesamt 36 Reproduktionen von kleinformatigen Abzügen von 35-mm-Negativen. Eigentlich zur Gruppe R gehörend, da kein Negativ vorhanden ist.
Zur Information: 21 dieser Fotografien waren von PB auf bestimmte Weise auf 2 Doppelseiten des Albums angeordnet worden, die wir entsprechend im Buch reproduziert haben; auf diese vier Anordnung bezogen sind diese Objekte mit der Kennung 1a bis f; 2a bis e; 3a bis e; und 4a bis e bezeichnet. Alle weiteren Objekte ab A_005 fortlaufend bis A_020 bezeichnet.
Zur Information: Da dies das einzige Konvolut von 35mm-Aufnahmen ist, erschien eine eigene Gruppe gerechtfertigt. PB hat am Beginn seiner Fotoarbeit mit einer Leica, also mit einer Kleinbild-Kamera gearbeitet, danach zu Sucherkamera Ikoflex gewechselt, die ihm erlaubte, ohne die Kamera vor das Auge zu heben durch den Sucher die Motive zu definieren.
C (=Color-Abzug): Insgesamt 9 Aufnahmen, 35mm Format
Vintage-Abzug bezeichnet eine Originalfotografie, die in zeitlicher Nähe zur Aufnahme entstanden ist. Im Archiv PB werden damit nur großformatige Abzüge bezeichnet. Größe der Vintage-Abzüge: 23 cm x 23 cm und 30cm x 30 cm. Derzeitiger Stand an Vintage-Abzügen: 230.
Kontakt-Abzüge (das sind Abzüge, die in direktem Kontakt von Negativ und Fotopapier belichtet werden, also ohne Vergrößerung, und 1:1 das Negativ-Format wiedergeben).
Work-Prints bezeichnen kleine Vergrößerungen, die evtl. als Probeabzüge hergestellt wurden. Ebenso werden damit die Arbeitsabzüge, von CA bei Übernahme des Archivs 2001 produziert; (Abzüge 18 cm x 24 cm im Archiv CA; als Xeroxkopien bei FS). Ebenso bezeichnen wir damit die digitalen Ausdrucke des 2019/2020 neu digitalisierten gesamten Archivs (A4).
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Kamera-Nutzung
Bourdieu nutzte zwei verschiedene Kameras.
Die meisten Fotos (Gruppe N) sind mit einer analogen Mittelformat-Kamera, «Ikoflex» der Marke Zeiss (Rollfilm für 12 Aufnahmen) aufgenommen und im Format 60 mm x 60 mm erhalten. Es handelt sich um quadratische Negative.
Diese Sucherkamera war eine Neuheit aus Deutschland und zu der Zeit die klassische Kamera für Foto-Journalisten. Sie ermöglichte es dem Fotografierenden, wie bei dem Vorgänger der Kamera, der klassischen «Rolleiflex» unauffälliger Aufnahmen zu machen, da sich der Sucher oben auf dem Gehäuse befand und die Kamera anstatt vor dem Gesicht in etwa auf Brusthöhe gehalten werden musste. Somit genügt es, dass der Blick gesenkt wird, um den richtigen Bildausschnitt zu bestimmen und im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken. So entstanden viele seiner flüchtigen und bewegten, sowie verstohlenen Aufnahmen.
Diese Kamera war ab der Zwischenkriegszeit die gängigste Reporter-Kamera.
Zu Beginn seiner Fotoarbeit nahm Bourdieu reinige Bilder mit einer Kleinbild-Kamera von Leica auf. Das sind die hier mit A gekennzeichneten 35mm-Aufnahmen. Man erkennt sie daran, dass sie im Quer- und Hochformat sind.
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Such- und Filterfunktionen
​Das vorliegende Archiv wurde bewusst nicht nach sozialwissenschaftlich-konzeptuellen Gesichtspunkten geordnet, um den Nutzern keine vorgefertigten Kategorisierungen nahezulegen, sondern beschränkt sich auf deskriptive, gegenstandsbezogene Zuordnungen.
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Das Archiv kann über die sieben angezeigten Kategorien durchsucht werden:
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Stadt/ Ort: Algier, Ghardaïa, Collo, …
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Öffentliche Räume: Kaffees, Brunnen, Plätze, …
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Situation/ Aktivität: Handel, Arbeit, Konsum, …
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Jahr: 1957-1962
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Personen: Mann, Frau, Kinder, Mädchen, Junge, Greis, Greisin
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Vestimentärer Code: Westlich/ modern, traditionell, Uniform, …
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Art der Aufnahme: Portrait, Gruppenaufnahme, Gruppenportrait, Ansammlung, …
Nach der Auswahl von Kategorien, muss der Nutzer auf „Bilder filtern“ klicken, um die Suche zu starten.
Wenn Sie auf ein Bild klicken, sehen sie es vergrößert und erhalten weiterführende Informationen:
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Archiv Nummer
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Titel des Bildes - in den meisten Fällen der von Bourdieu ausgewählte Titel
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Ort der Aufnahme (in einigen Fällen von Bourdieu selber angegeben, in vielen Fällen rekonstruiert, u.a. mithilfe der ethnografischen Informanten Tassadid Yacine und Sallah Boumidja)
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Jahr, in dem das Bild aufgenommen wurde (in einigen Fällen von Bourdieu selber angegeben, in einigen anderen rekonstruiert, u.a. mithilfe der ethnografischen Informanten Tassadid Yacine und Sallah Bouhedja)
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ggf. Verwendung von Pierre Bourdieu für und in seinen Publikationen
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Praktische Informationen zur jeweiligen Aufnahme, wie das Vorhandensein und die Größe des Negatives, des Abzuges und der verwendeten Technik
Einige Bilder sind mit Kommentaren versehen, welche mehrheitlich von Tassadit Yacine stammen.
Wenn das Bild anstatt mit der Mittelformat-Kamera, die Bourdieu für einen Großteil der Bilder verwendet hat, die Kleinbild-Kamera eingesetzt wurde, ist dies ebenfalls im Kommentar erwähnt.
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Wir freuen uns sehr, wenn Sie ihre Fragen und Anmerkungen per Mail mit uns teilen.
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Dank
Wir danke Tassadit Yacine und Christine Frisinghelli. Yacine stand uns dankenswerter Weise mit ihrem reichen Wissen über die algerische Gesellschaft und Kultur als ethnografische Informantin zur Verfügung und Christine Frisinghelli, die schon maßgeblich bei der Vorläufer Studie »Pierre Bourdieu: In Algerien« aus dem Jahre 2003 mitgewirkt hat, stand uns mit ihrer umfassenden Kenntnis des Fotografie-Konvoluts beratend zur Seite. Auch ihr gilt großer Dank.
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Großer Dank gilt selbstverständlich auch der Deutschen Forschungsgesellschaft und der Zeppelin Universitätsgesellschaft e.V. die das gesamte Forschungsprojekt maßgeblich durch die Förderung ermöglicht haben.
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