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Forschung

Die Fondation Bourdieu versteht sich als fördernde Instanz und Impulsgeberin für gegenwärtige Forschungen zu und mit Pierre Bourdieu. Im Fokus stehen insbesondere Arbeiten zur fotografischen Praxis Bourdieus, zur visuellen Gestaltung seiner wissenschaftlichen Publikationen – etwa in der Actes de la recherche en sciences sociales – sowie zur Rolle von Bildern in seinen soziologischen Erkenntnisprozessen.

Wenn Sie ein entsprechendes Forschungsvorhaben verfolgen und es mit einer interessierten Fachöffentlichkeit teilen möchten, freuen wir uns über Ihre Nachricht an fondation.p.bourdieu@gmail.com. Gerne nehmen wir Ihr Projekt auf unserer Seite „Laufende Forschung“ auf.

Laufende Forschung

Visualisierung soziologischer Praxis: Montage-Techniken und Text-Bild-Kompositionen in Pierre Bourdieus Forschungswerkstatt (DFG-Projekt II (2024-2027))

von Franz Schultheis, Charlotte Hüser & Lilli Kim Schreiber (Zeppelin Universität, fondation.p.bourdieu@gmail.com)

(Foto: ARSS-Cover 1975-1979)

Das von der DFG geförderte Forschungsvorhaben (2025–2028) knüpft inhaltlich an ein vorausgegangenes Projekt (2020–2022) an, das die Rolle der Fotografie in Pierre Bourdieus soziologischer Praxis untersuchte. Während sich das erste Projekt auf Bourdieus fotografisches Arbeiten im Rahmen seiner Algerienfeldforschung (1958–1961) konzentrierte – insbesondere auf die Fotografie als epistemisches Instrument zur Analyse sozialer Wirklichkeit – richtet das Anschlussprojekt den Blick auf eine bislang wenig erforschte, zentrale Dimension seines Werks: die visuelle Gestaltung seiner wissenschaftlichen Publikationen nach Abschluss der Feldforschung.

Im Zentrum steht die von Bourdieu 1975 gegründete Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales (ARSS), deren innovative Verknüpfung von Text und Bild als methodisches Ensemble der soziologischen Wissensproduktion analysiert wird. Bourdieu entwickelte hier eine eigenständige Form des Text-Bild-Dialogs, die durch eine systematische, theoretisch reflektierte und empirisch eingebettete Integration visueller Elemente geprägt ist. Fotografien, Tabellen, Diagramme, Karten, Collagen und sogenannte Encadrés fungieren nicht als illustratives Beiwerk, sondern als integrale Bestandteile der Argumentation. Diese visuelle Strategie dient der Sichtbarmachung von Erkenntnisprozessen, der performativen Vermittlung empirischer Komplexität und der Infragestellung tradierter Hierarchien zwischen Text und Bild.

Ausgangspunkt der Analyse sind die ersten fünf Jahrgänge der ARSS (1975–1979), in denen mit visuellen Formen besonders intensiv gearbeitet wurde. Anhand ausgewählter Fallstudien werden die bildtextuellen Kompositionen als eigenständige Erkenntnisformen untersucht: Welche gestalterischen Prinzipien liegen ihnen zugrunde? Wie tragen sie zur Argumentation bei? Und inwiefern spiegeln sie Bourdieus Anspruch einer engagierten, reflexiven und transdisziplinären Soziologie? Ziel ist es, die visuelle Logik dieser methodischen Innovation zu rekonstruieren und ihre Bedeutung für gegenwärtige Debatten der soziologischen Wissensproduktion zu erschließen.​

Pierre Bourdieu in Algerien: Genese und gegenwärtige Gebrauchsweisen einer visuellen

Soziologie unter kolonialen Bedingungen (Bachelorarbeit)

von Lilli Kim Schreiber (Zeppelin Universität, l.schreiber@zeppelin-university.net)

Die Bachelorarbeit untersucht Pierre Bourdieus visuelle Soziologie im Kontext seiner Algerienfotografien und fragt nach deren Verhältnis zum Kolonialismus sowie nach den unterschiedlichen Interessen und Gebrauchsweisen, die sich in ihrer wissenschaftlichen und kulturinstitutionellen Rezeption zeigen. Aufbauend auf der Beobachtung, dass postkoloniale Perspektiven auf Bourdieus fotografisches Werk bislang nur am Rande behandelt wurden, verbindet die Studie Ansätze der visuellen Wissenssoziologie, Anthropologie und Kunstsoziologie mit einer kritischen Analyse der institutionellen Präsentationsformen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Bourdieus Fotografien – entstanden im Spannungsfeld zwischen orientalistischem Blick, antikolonialer Kritik und postkolonialem Interesse – heute rezipiert, instrumentalisiert und kontextualisiert werden. Durch exemplarische Fallanalysen von Publikationen, Symposien und Ausstellungen werden die vielfältigen kulturellen und epistemischen Nutzungsweisen der Bilder offengelegt. Ziel der Arbeit ist es, Strategien für einen verantwortungsvollen, postkolonial sensibilisierten Umgang mit kolonialen Bildzeugnissen zu entwickeln und deren Potenzial für wissenssoziologische und bildungspolitische Prozesse sichtbar zu machen.

 

Kurzbeschreibung des Vorhabens:

Die vorliegende Arbeit knüpft an die Beobachtung an, dass die postkoloniale Perspektive auf Bourdieus visuelle Soziologie – unter Berücksichtigung der legitimen (im Sinne etablierter) Anwendungen und Gebrauchsweisen in Publikationen, Symposien und kulturinstitutionellen Ausstellungen – bislang weitgehend verkannt oder nur peripher behandelt wurde. Aufbauend auf diesem ersten empirischen Befund eines vorausgehenden Forschungsvorhabens widmet sich die Bachelorarbeit den bislang kaum in den Fokus von Analyse, Präsentation und Vermittlung gerückten Dimensionen des bourdieuschen fotografischen Werks.

Untersucht werden Bourdieus visuelle Soziologie, seine Fotografien in Algerien sowie deren Verhältnis zum Kolonialismus. Im Zentrum steht die Frage nach den unterschiedlichen Interessen an Bourdieus Algerienfotografien und deren jeweiligen Gebrauchsweisen. Dabei lassen sich drei Perspektiven unterscheiden:

  1. Bourdieus Persönlichkeit als Autor und Urheber zahlreicher international rezipierter soziologischer Standardwerke,

  2. seine Rolle als intellektuelle Schlüsselfigur und Akteur innerhalb der wissenschaftlichen und sozialen Kontexte seiner Zeit,

  3. schließlich der spezifische Ursprung seiner visuellen Soziologie im Algerien des Kolonialkrieges – im Spannungsverhältnis zwischen orientalistischem Blick, antikolonialer Kritik und postkolonialem Interesse –, der einen multiperspektivischen und kritisch-reflexiven Zugang ermöglicht.

Diese Dreiteilung verdeutlicht, dass das Interesse an Bourdieus Algerienfotografien maßgeblich in derPersona Bourdieus seinen wichtigsten Bezugspunkt findet und durch sie kanalisiert wird. Die Instrumentalisierung der Algerienfotografien führt jedoch in mehrfacher Hinsicht zu einem Double Bind: Bourdieu selbst sah sich ungern in der Rolle des Fotografen, schätzte jedoch zeitlebens den empirischen Nutzen seiner fotografischen Dokumentationen. Er war sich der kolonialen Rahmenbedingungen seiner Arbeit in Frankreich – militärisch, sozial und akademisch – bewusst, situierte die Fotografien jedoch nie in einem moralischen oder läuternden Kontext, sondern betonte stets deren empirisch-soziologischen Gehalt.

Ausgehend von Sociologie de l’Algérie (1958) und dem darauffolgenden Bedürfnis Bourdieus, die dort bereits textuell festgehaltenen Erkenntnisse fotografisch zu dokumentieren, entstand ein Archiv von rund 3.000 Fotografien, von denen heute etwa 1.200 erhalten sind. Dieses Archiv fungierte sowohl als eine Art luhmannscher Zettelkasten als auch – im Sinne von Marcel Mauss – als kollektives Gedächtnis: ein vernetztes System von Bildnotizen, auf das Bourdieu zur Illustration zentraler soziologischer Konzepte in zahlreichen späteren Publikationen immer wieder zurückgriff.

In diesem Sinne kann die heutige Objektivierung der Bourdieuschen Fotografien als ein konsequenter Schritt in der Auseinandersetzung mit den Bedingungen ihres Ursprungs verstanden werden. Zugleich untersucht die Arbeit, wie diese Fotografien in ihren bisherigen, institutionell etablierten Kontexten – in Publikationen, Symposien und Ausstellungen – verwendet und rezipiert werden, und welche veränderten Perspektiven sie dabei auf Pierre Bourdieu in Algerien eröffnen. Dabei ist hervorzuheben, dass jede Rezeption der Algerienfotografien unweigerlich perspektivisch geprägt ist: Es gibt keine Sicht ohne Standpunkt, wie Bourdieu selbst immer wieder betonte (vgl. u. a. Bourdieu 2002).

Der Zugang zur Rezeption der bourdieuschen visuellen Soziologie eröffnet zugleich die Möglichkeit einer kulturinstitutionellen Kritik nach kunstsoziologischen Vorbildern. Auf dieser Grundlage untersucht die Bachelorarbeit koloniale Bildzeugnisse im Spannungsfeld angewandter Anthropologie. Sie verbindet theoretische Ansätze der visuellen Wissenssoziologie und Anthropologie mit den kulturinstitutionellen Gebrauchsweisen der Bilder anhand mehrerer fallbeispielhafter Exkurse, darunter neben Bourdieu auch Zeitgenoss*innen der französischen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Tradition (z. B. Rivière, Tillion, Barthes).

Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf praktisch umsetzbare Strategien für einen postkolonialen Umgang mit diesen Bildmaterialien sowie auf deren kritische (selbst-)reflexive Evaluation anhand induktiv entwickelter Kriterien. Im Zentrum stehen dabei die Gewaltpotenziale der Dokumentation, die zugrunde liegenden Bedingungen und beteiligten Akteur*innen sowie die Reflexion über ihren wissenschaftlichen, zivilgesellschaftlichen, politischen und kulturellen Gebrauch und Nutzen. Ziel ist es abschließend, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, um koloniale Bildzeugnisse verantwortungsvoll zu interpretieren und zu präsentieren sowie für wissenssoziologische Bildungsprozesse fruchtbar zu machen.

Individualisierte Übergänge und Professionalisierungsprozesse nicht-traditioneller Studierender der Kindheitspädagogik (DFG-Projekt)

von PD Dr. André Epp (Pädagogische Hochschule Karlsruhe, andre.epp@ph-karlsruhe.de)

Der dritte Bildungsweg erfährt aktuell vielfach Bedeutungszuwachs. Der Beschluss der Kultusministerkonferenz zum Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber:innen ohne schulische Zugangsberechtigung flankiert einen Qualifikationsstrukturwandel, der sich in Akademisierungs- und Professionalisierungsbestrebungen in unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfeldern widerspiegelt. In diesem Rahmen werden Zielgruppen, die ohne Abitur, über besondere Zugangswege und Zulassungsverfahren zum Studium kommen, als „nicht-traditionell Studierende“ bezeichnet. Während „Normalbildungsverläufe“ vielfach Gegenstand der Forschung sind, existieren für Bildungsverläufe der relativ neuen Zielgruppe zahlenmäßig nur wenige und inhaltlich nur begrenzt signifikante Daten. Der gegenwärtige Forschungsstand ist überwiegend durch exploratives und grundlegendes Beschreibungs- und Erklärungswissen gekennzeichnet, dass der Heterogenität von Studienfächern und Studierenden nur rudimentär Rechnung trägt. Um zu aussagekräftigeren Erkenntnissen über nicht-traditionelle Studierende und deren Professionalisierungs- und Übergangsprozesse zu gelangen werden Forschungsarbeiten benötigt, die sich spezifischer an Studienfächern ausrichten und die in qualitativen Zugängen differentielle Rekonstruktionen vornehmen, die methodisch gezielt die Heterogenität der Personengruppe berücksichtigen. Entsprechend nimmt das Forschungsvorhaben, angebunden an ein bestimmtes Studienfach, dezidiert nicht-traditionelle Studierende der Kindheitspädagogik in den Blick. Ferner kommen biografieanalytische Forschungsansätze zum Einsatz, die im Rahmen von Forschungen zu nicht-traditionellen Studierenden bislang kaum Verwendung finden, sich jedoch hervorragend zur detaillierten Erfassung dieser eignen. Der enge Zuschnitt der Untersuchung auf ein Studienfach lässt Beiträge zur professionsbezogenen Forschung der Kindheitspädagogik erwarten, die im ersten Forschungsstrang bearbeitet werden. Die Erforschung von Zusammenhängen zwischen biografischen Erfahrungen und der Entwicklung des professionellen Denkens und Handelns von Kindheitspädagog:innen befindet sich in der Professionalisierungsforschung der Kindheitspädagogik noch in den Anfängen und hat die hier forcierte Zielgruppe bisher nicht in den Blick genommen. In diesem Rahmen rekonstruiert das Vorhaben wie nicht-traditionelle Studierende der Kindheitspädagogik biografische Zusammenhänge und ihre Bedeutung für das Denken und Handeln (selbstreflexiv) zugänglich machen. In einem zweiten Strang werden ungewöhnliche (Bildungs-)Übergänge bzw. Übergangsverläufe in ihrer Prozesshaftigkeit, die in der bisherigen Übergangsforschung nur eine marginale Betrachtung erfahren, und in ihrer Spezifizität erfasst. Es wird untersucht, wie nicht-traditionelle Studierende der Kindheitspädagogik den vom „Normalbildungsverlauf“ abweichenden und den wenig institutionell vorstrukturierten (individualisierten) Übergang selbsttätig rahmen und hervorbringen.

Abgeschlossene 
Forschungs-

projekte

Eine Analyse der Institutionellen Ausstellungspraxis der Algerienfotografien Pierre Bourdieus: Im Spannungsfeld von Erinnerungsträger, ethnografischer Quelle und ästhetischer Interpretation (Humboldt-Projekt)

von Lilli Kim Schreiber (Zeppelin Universität, l.schreiber@zeppelin-university.net)

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Ausstellung im Centre Pompidou (Paris, 2025)

Die vergleichende Studie untersucht, wie internationale Kulturinstitutionen seit 2003 die zwischen 1958 und 1961 entstandenen Algerienfotografien Pierre Bourdieus institutionell rahmen, interpretieren und öffentlich präsentieren. Im Fokus steht die Frage, wie diese Fotografien als kulturelles Erbe und Träger eines antikolonialen Kulturdialogs aus inszenatorischer, interpretativer, vermittelnder und kulturpolitischer Perspektive in der Ausstellungspraxis verortet werden. Im Rahmen eines Humboldt-Forschungsprojekts an der Zeppelin Universität werden vier transnational kuratierte Ausstellungen anhand eines induktiv entwickelten Vergleichsschemas mittels qualitativer Inhaltsanalyse untersucht. Methodisch orientiert sich die Studie an einem vorbereitenden Grounded-Theory-Ansatz, um Deutungsmuster, kuratorische Strategien sowie Spannungsverhältnisse zwischen Kunst, Ethnografie und kollektiver Erinnerung als kulturpolitisches Aushandlungsfeld herauszuarbeiten. Analysiert werden kuratorische Materialien wie Flyer, Kataloge, Online-Texte, Presseberichte und Archivquellen; der Korpus wird durch teilnehmende Beobachtungen und selbstreflexive Notizen ergänzt. Die Ergebnisse fließen in eine auto-analytische Reflexion ein, die sich in einer eigenen Ausstellung an der Kunsthalle Bielefeld materialisiert – einem Objektivierungsversuch und experimentellen Raum, der forschungsbasierte Erkenntnisse in kuratorische Praxis übersetzt. Die Studie schließt eine Forschungslücke, indem sie die bislang kaum beleuchtete inszenatorische und kulturpolitische Dimension von Bourdieus fotografischer Praxis sichtbar macht. Ziel ist es, institutionelle Deutungsstrategien kritisch zu reflektieren und kulturpolitisch einzuordnen – nicht als normative Handlungsempfehlung, sondern als Impuls für den Umgang mit Bourdieus Werk im Spannungsfeld von visueller Soziologie, postkolonialem Diskurs und Erinnerungspolitik.

Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnisform soziologischer Forschung bei Pierre Bourdieu (DFG-Projekt I1 (2019-2022))

von Franz Schultheis, Stephan Egger, Charlotte Hüser & Lilli Kim Schreiber (Zeppelin Universität, fondation.p.bourdieu@gmail.com)

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Schultheis, F. & Egger, S. (2022) Bielefeld: transcript.

In einem Essay aus dem Jahre 1974 schreibt Howard Becker: „Sociologists today know little of the work of social documentary photographers and its relevance to what they do. They seldom use photographs as a way of gathering, recording or presenting data and conclusions.” Becker konnte nicht wissen, dass Pierre Bourdieu genau dies bereits Ende der 1950er-Jahre systematisch praktizierte. Während seiner algerischen Feldforschungen produziert Bourdieu einige tausend fotografische Dokumente, die er über viele Jahrzehnte als eine Quelle seiner Studien nutzen sollte. Fotografie diente ihm sowohl als Instrument, Methode und Erkenntnismittel seines Forschens und wurde dann zum Ausgangspunkt einer sukzessiven Ausweitung seiner „visuellen Soziologie” auf den Bereich der Forschung „über” Fotografie in seiner bekannten Studie Eine illegitime Kunst bis hin zum ausgiebigen und systematischen Einsatz visueller Dokumente in seiner Revue Actes de la Recherche en Sciences Sociales oder Werken wie Die feinen Unterschiede. Bourdieu bedient sich im Laufe seiner Karriere eines Rückgriffs „auf visuelle Aussageformationen“, der in seiner Breite und Vielfalt in der Soziologie einzigartig sein dürfte. Er nutzt die Fotografie systematisch als Teil seiner Forschungskonzepte zur Beobachtung, Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Phänomene und setzt sie konsequent als Instrumente wissenschaftlicher Forschung ein. Dadurch erweitert er das Forschungs- und Methodenrepertoire der Sozialwissenschaften um originär empirisch-fotografische Bildpraktiken. Umso mehr überrascht es, dass diese visuelle Komponente des Bourdieuschen Werks bis heute noch nicht angemessen gewürdigt wurde. Hauptgrund für dieses Manko dürfte sein, dass bisher nur ein Bruchteil des Bourdieuschen Fotoarchivs öffentlich zugänglich ist und dessen wissenschaftliche Sichtung inklusive einer inhaltlichen Aufbereitung und Veröffentlichung noch aussteht. Aus unserer Sicht wäre die Schließung dieser Lücke einerseits von großem Interesse für ein adäquate Rezeption der Bourdieuschen Forschungspraxis und Theoriebildung: Insofern die Fotografie ihm als wesentlicher Zugang zu einer Objektivierung sozialer Wirklichkeit diente, eröffnet sich hier die Möglichkeit, die für sein Werk kennzeichnende intensive Verschränkung visueller und diskursiver Zugänge im Detail zu rekonstruieren. Von besonderem Interesse wäre hier, den Anteil der visuellen Soziologie Bourdieus an der Ausarbeitung zentraler Konzepte wie „Habitus“, „symbolisches Kapital“ oder „symbolische Gewalt“ zu rekonstruieren.Andererseits könnte eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit der visuellen Soziologie Bourdieus dazu dienen, den Gebrauch der Fotografie in der sozialwissenschaftlichen Praxis neu zu beleben. Bourdieus fotografisches Werk böte das erforderliche Potential an empirischer Fundierung, methodischer Stringenz und gesellschaftstheoretischer Reflexivität, um dies auf exemplarische Weise zu leisten.

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